Warum eine Debatte über die Ziele von Bildung auf die Agenda gehört, und wie eine Renaissance humanistischer Konzepte dazu beitragen kann
Anzahl und Ausmaß derzeitiger Krisen führen viele Menschen an den Rand dessen, was sie bewältigen können, und die Gesellschaft vor gewaltige Zerreißproben. In solchen Krisenzeiten wird aber auch offensichtlich, dass an vielen Stellen der Gesellschaft einzelne Menschen mit ihren persönlichen und sozialen Fähigkeiten den Unterschied machen. Mehr denn je stellt sich also die Frage: Wie können Persönlichkeits- und Charakterbildung gefördert werden? Damit wird deutlich: Bildung und Schulen dienen eben längst nicht nur der Vermittlung von Wissen und Kompetenzen. Sie sind mehr denn je ein zentraler Lebensort junger Menschen geworden, der durch Rahmensetzungen und soziale Interaktion die Persönlichkeits- und Charakterbildung junge Menschen nachhaltig prägt, im Guten wie – leider oft – auch im Schlechten. Darauf aber sind viele Schulen nicht vorbereitet. Und Lehrende fühlen sich mit einem wachswenden Berg an Aufgaben allein gelassen.
Es ist also überfällig, eine öffentliche Debatte darüber zu führen, wie Schulen dieser wachsenden Verantwortung gerecht werden können.
Wie können Persönlichkeits- und Charakterbildung gefördert werden? Wie können Menschen Wege verantworteter Sinnfindung eröffnet werden? Und wie kann schulische Bildung in all der Vielfalt der Antworten einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten? Die folgenden fünf Thesen setzen einen Impuls für ein vertieftes Bildungsverständnis, das die Würde der Person ins Zentrum rückt. Denn Schulen werden immer mehr zu entscheidenden Orten, wenn es darum geht, junge Menschen darin zu fördern, sich zu selbstbestimmten und urteilsfähigen Autorinnen und Autoren ihres Lebens sowie zu verantwortungsbewussten Gestalterinnen und Gestaltern ihrer Lebenswelt Welt und Gesellschaft zu entwickeln. HumanismusPlus schöpft aus der Tradition des christlichen Humanismus und übersetzt bewährte pädagogische Konzepte, um sie für die Förderung von Menschen unabhängig von ihrer Sozialisation und Herkunftskultur fruchtbar zu machen.
1. Gute Bildung fördert umfassend die Entfaltung der Person.
Bildung dient der Entfaltung junger Menschen und ihrer Vorbereitung darauf, das Leben zu meistern. Bildung, die diesem Anspruch genügt, fördert junge Menschen also nicht nur umfassend in der Entfaltung ihrer Talente. Sie unterstützt sie darin, urteilsfähig zu werden und den Sinn und die Bestimmung ihres Lebens zu finden. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, gelingt dies nur in einem Lebensraum Schule, der auch auf die Entfaltung der sozialen, kulturellen, ethischen und politischen Fähigkeiten junger Menschen angelegt ist.
Es gibt für Charakter- oder Persönlichkeitsbildung einen manifesten gesellschaftlichen Bedarf, der seit Jahren nicht annähernd ausreichend berücksichtigt wird. Eine vom Zentrum für Ignatianische Pädagogik in Auftrag gegebene Allensbach-Studie aus dem Jahr 2020 kommt zu dem Schluss: Schulen, die ein besonderes Augenmerk auf Persönlichkeitsbildung legen, sprechen ein von der Bevölkerung empfundenes Defizit an. Über die letzten zwei Jahrzehnte hat sich der Eindruck verstärkt, dass Persönlichkeitsbildung nicht ausreichend gefördert wird. Ihr zu einer Renaissance zu verhelfen, bietet also gewaltige Chancen. Gute Bildung aber schafft Zugänge zu der Frage: Wie lerne ich der beste Mensch zu sein, der ich sein kann – in Verantwortung für andere
2. Bildung, die primär funktionalen Zwecken dient, demotiviert junge Menschen und verletzt ihre Würde junger Menschen.
Gute Bildung ermöglicht die Erfahrung von Würde. Und da sich Erfüllung und Bedeutung im Leben nicht nur auf das reduzieren lassen, was die Gesellschaft gerade als „nützlich“ erachtet, darf sich auch der Lebensraum Schule konzeptionell nicht nur am „Nützlichen“ orientieren. Es braucht ausreichend Raum für das „Übernützliche“, für Muße, Spiel, Musik, Stille und einen selbstbestimmten Lebensrhythmus. Die Entfaltung der „ganzen“ Person zu fördern, bedeutet eben auch die Förderung aller Talente, der nützlichen und der übernützlichen.
Primär marktorientierte oder funktionalistische Bildungsangebote erreichen und motivieren Menschen nicht als selbstbestimmte Adressaten von Bildung. Eine an funktionalistischen Auswahlkriterien ausgerichtete Förderung von Menschen und ihren Fähigkeiten lässt vielmehr das Gefühl entstehen, im „Bildungsbetrieb“ als Person mit eigenen Vorstellungen, Wünschen und Wertorientierungen nicht zu zählen. Lehrende beklagen seit Jahren: Die Ökonomisierung von Schule und Bildungsplänen vor allem im Gefolge der PISA-Studie, orientiert Schulbildung primär an Gütekriterien der OECD wie Kompetenzerwerb, Arbeitsmarktfähigkeit oder internationaler Vergleichbarkeit. Schulen bleibt immer weniger Raum, um der Förderung von Schülerinnen und Schülern als Mensch gerecht zu werden.
Obwohl oder vielleicht gerade weil also „Bildung“ in Deutschland in aller Munde ist, und weil Erwartungen an Bildung als ein Heilmittel für nahezu jedes gesellschaftliche Problem groß sind, steigt kontinuierlich die Unzufriedenheit mit der Bildungsarbeit an den Schulen, obwohl sich dort viele Lehrende täglich mit ganzer Kraft engagieren. Dies wiederum macht den Lehrberuf nicht attraktiver. Spätestens aber die Einäugigkeit der Agenda bei der Bewältigung der Corona-Krise an den Schulen offenbart: Entscheider in Politik und Schulen dürfen Familien, Erziehungsberechtigte und Lehrende nicht weiter so alleine lassen, wenn es darum geht, ihre Kinder zu stärken und für die Zukunft fit zu machen.
3. Die Förderung von Persönlichkeits- und Charakterbildung beruht wesentlich auf dem gelebten Vorbild, der Förderung von Selbstreflexion und der Möglichkeit, selbstverantwortlich handeln zu lernen.
Die Förderung von Persönlichkeits- und Charakterbildung geschieht nicht primär durch die Lehre im Unterricht, so wichtig dieser auch ist, um die Sprach- und Reflexionsfähigkeit zu fördern. Unterricht, womöglich noch in einem einzelnen, isolierten Fach, erreicht nichts. Die Lehre und die Förderung von Sprach- und Reflexionsfähigkeit erhalten ihre Glaubwürdigkeit vielmehr erst durch das Vorbild der Lehrenden und vermittelt durch die Wertentscheidungen, die sich in der konkreten Gestaltung des Lebens- und Lernumfeldes Schule niederschlagen.
Insbesondere der Förderung der Partizipation von Schülerinnen und Schülern kommt eine Schlüsselrolle zu, weil es, um mit Aristoteles zu sprechen, ja nicht so sehr darauf ankommt, das Gute zu erkennen, sondern zu richtig zu handeln.
Die Kultivierung eines entsprechenden pädagogischen Ethos und Handwerks empfiehlt sich als integraler Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Lehrenden. Ihre Haltung übersetzt in die Kommunikation und die Lernprozesse des Schulalltags ist die Basis für die Förderung von Persönlichkeits- und Charakterbildung in Unterricht und Schulalltag.
4. Gute Bildungskonzepte fördern selbstständiges Denken, vernünftiges Urteilen und Dialog, nicht zuletzt in der Bereitschaft, sich transparent zu eigenen Wertentscheidungen zu verhalten und selbst hinterfragen zu lassen.
Gute Bildung fördert selbstständiges Denken, soziale und demokratisch-staatsbürgerliche Tugenden sowie Urteilsfähigkeit mit dem Ziel, dass junge Menschen lernen, das Beste aus sich zu machen. Dazu gehört auch, dass junge Menschen vernünftig zu reflektieren und zu begründen lernen, worin sie selbst Erfüllung finden, und was ihr Beitrag zur Verwirklichung einer Gesellschaft ist, die den Prinzipien von Gerechtigkeit, Solidarität und Subsidiarität entspricht und die Grundlagen der Schöpfung bewahrt. Zu gelingender Bildung gehört auf diesem Feld natürlich auch, zu lernen, mit der Vielfalt der Antworten vernünftig und dialogbereit umzugehen.
Da jedes Bildungskonzept für Charakter- oder Persönlichkeitsbildung aber auf Vorentscheidungen beruht, die z.B. das Menschenbild betreffen, nutzt es nichts sich auf die scheinbare Objektivität von Fachunterricht oder eine angebliche weltanschauliche Neutralität von Schulen zurück zu ziehen. Denn dies verschleiert nur die weltanschaulichen und wertebasierten Vorentscheidungen, die den Bildungsprozessen tatsächlich zugrunde liegen. Es nimmt Schülerinnen und Schülern die Chance, sich mit diesen Vorentscheidungen vernünftig und im geordneten Dialog auseinanderzusetzen und fördert ein gesellschaftliches Vakuum an weltanschaulicher und oder religiöser Bildung, die geeignet wäre, den ideologischen Rattenfängern das Wasser abzugraben.
5. Gute Schulbildung hält in diesem Sinne die Frage nach Gott offen.
Zu einem erfüllten Leben gehört also, sich Sinnquellen erschließen zu können, ohne in die Irrationalität abzugleiten. Orientierung in Sinnfragen braucht Übung, kritisches Orientierungswissen, Einführung in verschiedene Möglichkeiten der Sinnfindung und die Schulung eines gesunden Urteilsvermögens. Jede Schule wird, je nach Hintergrund und sozialem Kontext, andere Konzepte brauchen, wie Persönlichkeits- und Charakterbildung sich im Kontext ihrer Situation und im Blick auf ihre konkreten Schülerinnen und Schüler am Besten konkretisieren lässt. Leitend dabei sollte aber die Überlegung sein: Problematisch sind nicht „Kulturen“, „Weltanschauungen“ oder „Religionen“, sondern Ignoranz – der Mangel an Wissen, von Sprachfähigkeit- und Urteilsfähigkeit hinsichtlich religiöser Zusammenhänge. Schülerinnen und Schüler in ihrem Bedürfnis nach Transzendenz alleinzulassen, wäre ein pädagogisches Versäumnis; es ernst zu nehmen, heißt indes nicht, sie zu bekehren, sondern einen aufgeklärten Umgang mit letzten Dingen, die Bereitschaft zu Selbsthinterfragung und Selbsttranszendenz sowie den Dialog, auch die konstruktive Debatte mit Andersdenken, einzuüben.
Initiator der Bildungsthesen ist das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) in Ludwigshafen. Mit seiner Initiative „HumanismusPlus“ setzt es einen Impuls für umfassende Persönlichkeitsbildung – in christlicher Tradition, aber säkular anschlussfähig.
Co-Autoren neben dem ZIP sind Bildungspolitiker sowie weitere Entscheider und Multiplikatoren, die eine öffentliche Debatte über das Grundverständnis und die Zielstellung von Bildung anregen möchten. Im Kern geht es ihnen darum, den Bildungsbegriff humanistisch zu vertiefen und für die pädagogische Praxis fruchtbar zu machen.
Zielgruppe sind Bildungsrepräsentanten von Politik über Schule bis hin zu Stiftungen, Verbänden und Unternehmen sowie die interessierte Öffentlichkeit.
Leitfragen: Was braucht es, um Persönlichkeitsbildung zu stärken? Wie können die bestehenden Spielräume für eine humanistische Pädagogik besser genutzt werden – und welche Erweiterungen sind nötig? Wo liegen die entscheidenden Hebel für Veränderung – und wo die Bremsen? Geht es vor allem um Bewusstseinsschärfung oder auch um Gesetzesinitiativen – um kulturelle oder institutionelle Reformen? Was folgt daraus für das Engagement von Bildungspolitikern? Schließlich: Wo liegen Handlungsprioritäten und welche nächsten Schritte sind erforderlich? …
Beispiel Rolle der Lehrer:
Wenn es stimmt, dass Lehrern die zentrale Verantwortung für das Gelingen humanistischer Persönlichkeitsbildung zukommt, wie können sie dann bestmöglich befähigt werden, ihren Unterricht entsprechend zu gestalten? Ist im Curriculum des Lehramtsstudiums anzusetzen, in der Gestaltung des Referendariats, in den Routinen des späteren Schulalltags? Brauchen (angehende) Lehrer mehr fachliche oder eher didaktisch-methodische Impulse? Reicht ihre Ausbildung oder wären kontinuierliche Fortbildungen angezeigt? …
Wenn Sie Interesse an der Stärkung humanistischer Persönlichkeitsbildung haben, laden wir Sie herzlich ein, mit uns weiterzudenken und ggf. Kooperationen auszuloten. Mehr über die Initiative „HumanismusPlus“ erfahren Sie auf der Webseite www.zip-ignatianisch.org oder per E-Mail unter .