Über die Freiheit, sich auszuprobieren

Mach mal!

Frau von Saint Ange, als Lerncoach betreuen Sie Kinder und Eltern in diesen verrückten Zeiten des Lockdowns. Was sind Ihre Erfahrungen mit digitaler Bildung und Distanzunterricht?

Caroline von Saint Ange: Meine Erfahrung ist, dass es eine unglaubliche Bandbreite gibt. Es gibt Kinder, die erleben fantastischen Distanzunterricht. Da werden wirklich fortschrittliche Apps benutzt: Wenn ein Kind ein Arbeitsblatt ausfüllt, kann die Lehrerin das in Echtzeit sehen und direkt eine Rückmeldung geben. Auf der anderen Seite kenne ich eine Brennpunkt-Schule, da haben alle 400 Kinder keine digitalen Endgeräte. Deswegen haben sich die Lehrer entschlossen, Lernpakete zu schnüren. Und von diesen 400 Paketen wurden 90 einfach nicht abgeholt. Und das finde ich echt krass. Die Debatte ist schwierig, weil sich immer jemand angegriffen fühlt. Schaffen es die Eltern, zu Hause einen geeigneten Rahmen zu setzen? Was können Lehrer erreichen? Wichtig ist, täglich den Kontakt zu den Kindern zu halten. Ich nenne das Check-in und Check-out. Es ist gar nicht so wichtig, dass die Lehrer lange Video-Meetings machen, sondern morgens einen Check-in, einen klaren Plan vorgeben und nachmittags einen Check-out. Dann kann es toll funktionieren.

Tobias Zimmermann SJ: Wir haben tatsächlich eine riesige Bandbreite von Lebenswirklichkeiten bei Schülern und Lehrern. Im Bereich digitaler Bildung sehen wir jetzt wie in einem Brennglas, wo wir stehen, was wir können, was funktioniert und was nicht. Aber das Thema geschlossene Schule beginnt viel früher. Als wir im Heinrich-Pesch-Haus angefangen haben, eine Suppenküche zu eröffnen, weil durch Corona die Tafeln geschlossen waren, haben wir gemerkt, dass es eine erschütternde Zahl von Kindern und Jugendlichen gibt, die kein warmes Essen mehr bekommen. Schlicht und ergreifend, weil die Kitas und Schulen geschlossen sind. Und diese Familien kommen meistens nicht von sich aus. Das Problem fängt also viel früher an und das ist die Realität an unseren Schulen. Das ist etwas, das die Gesellschaft nicht sehen will.

Es würde vieles besser laufen, wenn die Schulen mehr Freiheit hätten, Dinge so zu gestalten, wie sie vor Ort notwendig und sinnvoll sind.

Auf ihrem Instagram-Kanal gibt Caroline von Saint Ange viele praktische Tipps für Eltern, PädagogInnen und Kinder.

Was kann das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) in Ludwigshafen beitragen?

Tobias Zimmermann SJ: Schule ist ein Lernort, wo soziale Kommunikation stattfindet, wo Kinder ganz banal ernährt werden, wo es darum geht, Eltern zu unterstützen in unterschiedlichsten Lebenssituationen. Da wäre auch in der jetzigen Situation mit ganz oder halbgeschlossenen Schulen sehr viel mehr möglich, wenn wir uns nicht nur auf das Lernen fokussieren würden. Zum digitalen Lernen gehört für mich auch dazu, morgens zu fragen: Wie geht’s euch? Ist alles gut? Da gibt es Kinder, um die ich mich sorgen muss. Wen muss ich mir vielleicht nach dem Unterricht nochmal schnappen? Bei der Diskussion über digitales Lernen ist die ganze Republik immer fokussiert auf Technik und was Technik möglich macht. Und das verstärkt die schlechten Seiten der Schulen, denn wir reden dann nicht mehr über Personen, nicht mehr über Schüler. Uns im ZIP geht es um die Förderung von Personen und nicht nur um das Erreichen derselben abrufbaren Ergebnisse.

Caroline von Saint Ange: Die Kinder vermissen in der jetzigen Situation einfach wahnsinnig den sozialen Kontakt. Und es gibt auch sehr viele soziale Lerner, die im Klassenverband gut lernen. Sie lernen nicht unbedingt Chemie, weil sie sich für Chemie interessieren, sondern weil mit ihren Freunden im Chemieunterricht sitzen. Und wenn man dann plötzlich allein zu Hause vor dem Chemiebuch sitzt, ist das alles viel schwieriger. Ohne Präsenzunterricht fehlt vielen Kindern eine feste Tagesstruktur. Es gibt Kinder, die sich nicht anziehen, die morgens nicht frühstücken, die den gesamten Tag die Wohnung nicht verlassen. Es braucht eine richtig motivierende Familienstruktur, um da entgegenzuwirken. Auf meinem Instagram-Kanal werde ich sehr oft gefragt: Wie soll man denn bitte Homeoffice mit Homeschooling vereinbaren? Und da ist meine klare Antwort: Das lässt sich nicht vereinbaren. Ich kann nicht acht Stunden arbeiten und gleichzeitig Kinder unterrichten. Da kann es helfen, feste Bildungstandems zu bilden, also dass sich zwei Familien zusammenschließen und sich gegenseitig aushelfen. Viele Kinder haben auch eine ungesunde Haltung gegenüber dem Lernen, weil sie sich selbst gar nicht kennen und nicht wissen, wie sie am besten lernen. Und da setze ich als Lerncoach mit ganz praktischen Tipps an. Es geht viel darum, sich selbst zu spüren und einzuschätzen: Wann brauche ich eine Pause? Lerne ich eigentlich am besten, wenn ich dabei herumlaufe oder wenn ich es aufmale oder wenn ich es mir noch mal anhöre?

Kinder lernen im Moment ganz viel und wachsen wirklich über sich hinaus. Dazu gehört der Umgang mit digitalen Tools, aber eben auch Selbstorganisation, Resilienz und Frustrationstoleranz.

Was genau ist eigentlich ignatianische Pädagogik?

Tobias Zimmermann SJ: Ignatianische Pädagogik kommt aus der langen Tradition jesuitischer Schulbildung. Wir haben da keinen Zauberkasten mit Rezepten, die nur wir haben, sondern die Jesuiten haben sich vor 500 Jahren von den besten Hochschulen ihrer Zeit inspirieren lassen und dann selbst Kollegien aufgemacht. Und das wurde eine Erfolgsgeschichte. Zehn Jahre nach Gründung des Ordens gab es, glaube ich, schon 56 Jesuitenkollegien an verschiedenen Orten der Welt, alle mit demselben Konzept. Globales Lernen würden wir heute dazu sagen.

Ignatianische Bildung ist im Kern humanistische Bildung.

Im ZIP sprechen wir von HumanismusPlus, weil es christlicher Humanismus ist. Der Mensch steht im Mittelpunkt und Bildung ist erst einmal ein Selbstbildungsprozess. Das hat mit Freiheit zu tun und nicht mit dem Erreichen von Kompetenzmerkmalen, die andere vorgeben. Und das ist, glaube ich, ein Punkt, der in unserer derzeitigen Schulbildung generell schiefläuft. Wir rennen alle den Kriterien hinterher, die von der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt vorgegeben werden. Und da fehlt einfach etwas, nämlich das Bewusstsein, dass im Zentrum aller Bildungsbemühungen Menschen stehen, nicht das Eintrichtern von Kompetenzen.

Caroline von Saint Ange
Caroline von Saint Ange
Tobias Zimmermann SJ
Tobias Zimmermann SJ

Frau von Saint Ange, Sie waren als Internatsschülerin im Kolleg St. Blasien und als Philosophiestudentin an der Jesuitenhochschule in München. Decken sich Ihre Erfahrungen mit der Beschreibung von Pater Zimmermann?

Caroline von Saint Ange: Ja, ich finde mich da auf jeden Fall wieder! Dass der Mensch im Mittelpunkt steht, habe ich vor allem in St. Blasien als Internatsschülerin erfahren. Wenn es einem schlecht ging, war jemand da, der sich um einen gekümmert hat. Und dann wurden auch strenge Regeln, die sonst immer gegolten haben, ganz schnell aufgehoben. Weil die Erzieher, die Lehrer und die Patres gemerkt haben, hier braucht es eine Ausnahme. Und dann musste man jetzt diese Klausur eben nicht mitschreiben. Das habe ich schätzen gelernt und das hat mich auch selbst pädagogisch beeinflusst: Das Wichtigste ist, dass es diesem Menschen gut geht. Und auch den zweiten Punkt, die Freiheit, habe ich sehr stark erlebt. Ich bin mit 15 Jahren nach St. Blasien gekommen und hatte vorher kein Latein an der Schule gehabt. Also musste ich vier Jahre Latein nachholen. Da meinte damals der Schulleiter Pater Gimbler: Du bist ja in allen anderen Fächern sehr gut, also machen wir es so, dass du den kleinen Kindern Nachhilfe gibst und dafür organisieren wir dir Nachhilfe in Latein. Und so habe ich dann mit Nachhilfe angefangen und das wurde dann ganz schnell viel größer. Ich habe dann andere Schüler aktiviert und die Lernförderung gegründet, so dass am Ende alle Kinder von der fünften bis zur achten Klasse dreimal die Woche von 14:30 bis 15:30 Uhr dabei waren. Als ich Pater Gimbler den Vorschlag unterbreitete, hat er mir Räume zur Verfügung gestellt und meinte: Mach mal! Er hat mir das einfach zugetraut und mir die Freiheit gegeben, es auszuprobieren. Ich habe bestimmt viele Fehler gemacht, aber eben auch wahnsinnig viel gelernt dadurch.Sind Sie aus dieser Erfahrung heraus dann auch Lerncoach geworden?

Caroline von Saint Ange: Ja, es war der erste Schritt. Nach meinem Studium in München war ich dann zwei Jahre Teach First Fellow in Berlin. Teach First ist eine Initiative, die in den USA an den Ivy-League-Universitäten gestartet wurde. Die Idee war, dass privilegierte Hochschulabsolventen etwas an die Gemeinschaft zurückgeben. Sie gehen zwei Jahre an eine Schule in einen sozialen Brennpunkt und lernen, wie es dort eigentlich aussieht, und dann auch unter diesen schwierigen Bedingungen arbeiten, was eine wirkliche Herausforderung ist. Das Programm gibt es mittlerweile in 35 Ländern. Man wird vorher sehr gut ausgebildet: Wie lerne ich mit Kindern? Was braucht Lernen? Was sind da die Voraussetzungen? Wer bin ich und wie fördert das wiederum das Lernen? Es dreht sich dabei sehr stark um Selbstwirksamkeit, also davon überzeugt zu sein, selbst etwas bewirken zu können. Und viele Kinder an Brennpunktschulen haben dieses Gefühl überhaupt nicht mehr. Da ist ganz wenig Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Selbstwert und Selbstbewusstsein. Und dann schafft man den Zugang zu diesen Kindern nicht dadurch, dass man tollen Matheunterricht macht, sondern dass man mit ihnen Projekte macht. Das heißt, ein Schwerpunkt des Teach-First-Einsatzes ist es, mit den Kindern auf Projektbasis gemeinsam Sachen auszuprobieren. Und ihnen dort das Gefühl zu vermitteln: Du kannst was, du bist wer, du hast was zu sagen. Dadurch baut sich dann auch eine Beziehung zu dem Kind auf, die es fürs Lernen braucht. Teach First Fellows sind zusätzliche Kräfte an den Schulen und können dadurch oft einen frischen Wind mit reinbringen. Denn leider sind ja oft nicht nur die Kinder an Brennpunktschulen, sondern auch die Schulen selbst auf eine Art Abstellgleis geraten.Wenn Sie die Erfahrungen von Frau von Saint Ange hören: Was an Impulsen steckt da für Sie und Ihre Arbeit am ZIP drin?

Tobias Zimmermann SJ: Es geht um ganz viele Dinge, die genau unsere Pädagogik beschreiben. Im ZIP arbeiten wir mit Lehrenden an ihrer Haltung. Meine Überzeugung ist, dass die meisten Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland wirklich motivierte Menschen sind, die gerne gut unterrichten wollen und darin Bestärkung brauchen. Und das hat viel mit Haltungsfragen zu tun, um auch selbst wieder Freude am Unterrichten zu bekommen. Mit welcher Haltung fördere ich tatsächlich Schüler? Und wo gerate ich in eine Haltung, die nicht mehr die Person im Vordergrund hat? Die Lehrpläne lasten ja auch auf den Lehrern. Sie haben ein schlechtes Gefühl, wenn sie bestimmte Dinge nicht abarbeiten. Und davon müssen wir uns freimachen, um wieder den Blick für die Schüler zu haben. Und ein zweiter Punkt ist mir noch wichtig: Kinder lernen natürlich viel in der Schule. Aber wir wissen, dass gleichaltrige Freunde ungleich viel mehr Einfluss auf junge Menschen haben. Dafür braucht es neben der Schule ein sicheres Ambiente, wo Kindern Freiräume eröffnet werden, sie sich ausprobieren können und bei ihren Interessen abgeholt werden. Die ignatianischen Kollegien waren von Anfang an nicht nur Schule, sondern immer auch Internat und oft auch Pfarrgemeinde. Bis heute gibt es an allen unserer Schulen Nachmittagsangebote und verbandliche Jugendarbeit, die genau diese Freiräume für Kinder und Jugendliche bieten.Wer hat Sie in Ihrer eigenen Schulzeit besonders geprägt?

Tobias Zimmermann SJ: Herr Bruckmaier, unser Deutschlehrer. Er war überzeugter Agnostiker und würde wahrscheinlich im Grab rotieren, wenn er wüsste, dass ich Jesuit und Priester geworden bin. Wenn wir vor dem Deutschunterricht eine Religionsstunde hatten, begann er mit der Frage: Was hat euch mein Freund denn heute beigebracht? Und dann hat er genau das Gegenteil dargelegt. Was ich daran mochte und was ich wirklich gelernt habe: kritisch zu denken. Wir haben oft diese falsche Vorstellung von der Neutralität des Lehrers. Lehrer wie Herr Bruckmaier, die auch mal herausfordern, sind so etwas wie Sparringspartner für die Schüler.

Caroline von Saint Ange: Für mich war das Herr Kreichelt. Er war ursprünglich Benediktinermönch gewesen und ist ausgetreten. Ich weiß nicht warum. Das hat er nie erzählt. Danach war er mehr als 25 Jahre Deutsch- und Religionslehrer in St. Blasien. Ich hatte ihn auch zeitweise im Philosophieunterricht. Er war ein brummiger, unfreundlicher, übergewichtiger Mann, der als Lehrer eigentlich alles so gemacht hat, wie man es nicht machen soll. Unterricht ohne Tafelbilder. Witze, die man nicht wiederholen darf. Er war nie unfair, aber wahnsinnig streng. Ich habe mich oft mit ihm angelegt und diskutiert, und er hat mich immer wieder herausgefordert. Leider ist er kurz nach meinem Abitur plötzlich verstorben. Ich hätte ihm so gerne gesagt, was für einen großen Eindruck er auf mich gemacht hat. Der Philosophieunterricht bei ihm war der Grund, warum ich an die Hochschule für Philosophie gegangen bin. Nach vier Jahren Unterricht bei diesem Mann wusste ich einfach: Ich will auch so denken können wie er. Er war so unabhängig. Er hat mit uns keine einzige Deutschlektüre gelesen, die auf dem Lehrplan stand, sondern irgendwelche anderen Bücher, die ihm viel mehr zugesagt haben. Und diese Freiheit des Denkens hat mich beeindruckt.

Diese Geschichte ist Teil des Canisiuswegs, eine virtuelle Pilgerreise durch Zentraleuropa. Wir nehmen Sie mit auf 33 Stationen und eine Vielzahl spannender Geschichten, Games & Rätsel!

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