Haltung braucht Halt

Hinter uns in Europa liegt – trotz aller Krisen – eine beispiellose Zeit von Frieden und Stabilität. Und doch entscheiden sich viele Menschen, dem Staat den Rücken zuzuwenden. 40 % der Wähler*innen in Niedersachsen haben ihr Recht zur Wahl nicht wahrgenommen. Zu kurz springt aber, wer jetzt wieder nur über Politik und ihre Fehler spricht. Die Erosion des Vertrauens geht bis hin zur Wissenschaft, wenn sie unbequeme Wahrheiten ausspricht oder Dinge einfach nicht ins eigene Weltbild passen. Die Rattenfänger treiben diese Unsicherheit voran: Abweichende „Wahrheiten“ dienen der Abgrenzung. Mit Rationalität hat das natürlich nur noch wenig zu tun. Mit einem Mangel an Bildung allerdings auch nur bedingt. Denn, trotz weltweit steigender Standards in der Schulbildung wächst die Zahl der Menschen, welche die Aussage, die Erde sei eine Kugel, für das Ergebnis einer Verschwörung halten.

Unsere Bildungskonzepte haben ein Loch, auch bei vielen Gebildeten.

Was wir endlich wahrnehmen und ins Gespräch bringen müssen: Eine der zentralen Verheißungen der säkularen Aufklärung hat sich nicht erfüllt. Wissenschaft ersetzt Religion und Weltanschauung. Unbestreitbare wissenschaftliche Fakten geben Orientierung und lösen Irrationalität, Fanatismus und Dogmatismus ab. Verzweifelte Reste finden sich in der Weise, wie z. B. die Klimabewegung eine Verhaltensänderung bei Politik und Mitmenschen durch die Beschwörung der Unbestreitbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zum menschengemachten Klimawandel zu erreichen versucht, und einfach abprallt. Der zugrunde liegende Irrtum: Wissenschaft betrachtet Fakten, nicht die Welt.

Die Schöpfungsgeschichte war und ist nicht das irrationale Märchen, auf das sie – leider oft gerade auch durch fromme Menschen – reduziert wurde. Sie konnte von der Evolutionstheorie nicht abgelöst werden, weil sie auf einer anderen Ebene spielt. Die Frage ist doch: Warum erkennen die einen Menschen im Chaos der Welt dennoch einen Garten, eine Heimat, die zu erhalten sich lohnt? Und andere sehen nur den Dschungel, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist. Wer die Welt als Dschungel sieht, tut gut daran, sich abzuschotten und rücksichtslos an der Rettungskapsel für sich und Seinesgleichen zu bauen.

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Unser Leben beruht auf Grundentscheidungen, die wir treffen, basierend auf unserer Wahrnehmung der Welt und unserer Fähigkeit oder Unfähigkeit, sie unzensiert mit allem, was dazu gehört, wahrzunehmen und auszuhalten.

Wir brauchen Vorbilder, um uns die Fähigkeit oder Unfähigkeit zu erwerben, unsere Erfahrungen vernünftig und selbstkritisch zu reflektieren und in den Dialog zu bringen.

Wir aber haben die Anschauung der Welt auf eine subjektive Geschmacksfrage degradiert und wundern uns, wenn Menschen Fragen von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Solidarität genau darauf degradieren, auf Fragen des situativen Geschmacks.

Daran etwas in Schule und Bildung zu ändern, ist es hohe Zeit. Viele Lehrerinnen und Lehrer tun hier ihr Bestes. Aber sie müssen es quasi in Guerilla-Taktik in Nischen tun, die ihnen ein Schulbetrieb lässt, der an der Agenda eines funktionalistisches Bildungskonzept orientiert ist, wo es primär um Fachwissen geht, und um den empirisch, durch Lernstands-Kontrollen abprüfbaren Output erworbener Kompetenzen. Das aber lässt jene gefährlichen Leerstellen in der Förderung von Charakterbildung entstehen, in denen Irrationalität prächtig gedeiht. Denn die gefährlichste Weltanschauung ist, nach Humboldt, die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben.

Autor

Tobias Zimmermann SJ

Tobias Zimmermann SJ

Jesuit, Direktor des Heinrich Pesch Hauses in Ludwigshafen am Rhein, Studium in Theologie, Philosophie und Kunstpädagogik, ausgebildeter Focusingtherapeut

Terminhinweis:

Prinzipien und Praxis freiheitlicher Persönlichkeitsbildung:
Ein Lunch-Gespräch mit Christian Rutishauser SJ

Die Grundlagen umfassender Persönlichkeitsbildung stehen im Mittelpunkt eines Lunch-Gesprächs am 13. Oktober 2022 von 13 bis 14 Uhr im Hofbräueller am Wiener Platz in München. Die Veranstaltung ist die zweite Station einer „Roadshow“ durch mehrere Landesparlamente, auf der Vertreter der ignatianischen Pädagogik bildungstheoretische Reflexionen mit konkreten Handlungsvorschlägen für die Unterrichtspraxis verbinden.

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